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Ein Jahr der unangenehmen Wahrheiten

1. Januar 2023

Dr. Marc Surminski |

Im vergangenen Jahr hat die deutsche Politik unter dem Eindruck der von Olaf Scholz verkündeten „Zeitenwende“ einige scheinbar unverrückbare politische Glaubenssätze über Bord geworfen: Deutschland liefert jetzt in großem Umfang Waffen in ein Kriegsgebiet, und zur Energieerzeugung werden Kohlekraftwerke reaktiviert und Kernkraftwerke länger am Netz gehalten. Die brutale Macht des Faktischen hat dafür gesorgt, dass sich die Parteien der Bundesregierung von ihren alten ideologischen Fixierungen auf Kernthemen gelöst haben und seitdem Realpolitik betreiben.

Im neuen Jahr muss es nun darum gehen, sich auch in der Sozialpolitik von alten ideologischen Fixierungen zu lösen. Die Fakten sprechen auch hier eine deutliche Sprache: Die gesetzlichen Umlagesysteme in der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung sind ohne grundlegende Reformen nicht mehr überlebensfähig. Und um schmerzhafte Einschnitte wird man dabei nicht herumkommen. Wer das immer noch leugnet, verhält sich wie ein Mensch, der mit hoher Geschwindigkeit auf eine Mauer zufährt, die schon gut sichtbar vor ihm aufragt, und dabei sagt: „Warum sollte ich bremsen, es läuft doch gerade ganz gut.“

Die Mauer, auf die unsere Sozialpolitik ungerührt zufährt, ist der demographische Wandel. Mit dem Verschwinden der Babyboomer-Generation aus dem Erwerbsleben in den nächsten Jahren gerät das Verhältnis von Beitragszahlern zu Leistungsempfängern endgültig aus dem Gleichgewicht. Und der Wirtschaft, der Verwaltung, dem Gesundheits- und Bildungswesen fehlen künftig immer mehr Arbeitskräfte. Die gewaltige Krankheitswelle in diesem Winter mit den dramatischen Personallücken im Gesundheitswesen ist ein Vorgeschmack auf die nächsten Jahre, wenn regelmäßig viele Menschen als Arbeitskräfte ausfallen – und zwar für immer, weil sie in Rente gehen.

Die Rente mit 67, unter Kanzler Schröder beschlossen, war ein Versuch, das Problem im Umlagesystem zu entschärfen. Diverse Rentenreformen wie die Einführung der äußerst populären Rente mit 63 haben seitdem die Wirkung verwässert. Auch die meisten Babyboomer gehen mit rd. 64 Jahren in Rente.

In der Sozialpolitik ist jetzt die Zeit der unangenehmen Wahrheiten gekommen. Den Menschen muss klargemacht werden, dass sie deutlich länger arbeiten werden und das Rentenalter sich künftig an der Entwicklung der Sterblichkeit orientieren sollte. Gleichzeitig muss die Politik dafür sorgen, mehr Kapitaldeckung in die Altersvorsorge zu bringen. Das Rentenniveau ist bereits heute als Folge der Schröderschen Reformen stark abgesackt; ohne zusätzliche Kapitalerträge wird es nicht gehen, um den Lebensstandard der Menschen in Alter einigermaßen zu bewahren. Das funktioniert aber nur mit einer grundlegenden Reform der geförderten zusätzlichen Vorsorge und einer effektiven Nutzung der Kapitalmärkte. Die Politik schuldet gerade den Geringverdienern, auf die sonst ohne Gegenmaßnahmen häufig die Altersarmut wartet, eine ehrliche Antwort. Mit Milliardenhilfen aus der Steuerkasse kann man sich nicht ewig vor dieser Wahrheit drücken.

Kanzler Scholz hat Ende des vergangenen Jahres den ersten Schritt getan, als er forderte, dass künftig mehr Menschen tatsächlich bis 67 arbeiten und nicht früher in Rente gehen sollen. Für das neue Jahr brauchen wir endlich einen politischen Plan, um die demographische Katastrophe abzuwenden. Seit der Agenda 2010 hat sich keine Regierung mehr an diese Aufgabe herangetraut. Wie in der Sicherheits- und Energiepolitik ist nun der Mut gefragt, angesichts der Macht des Faktischen richtige Lösungen zu finden, und die Probleme nicht mehr in die nächste Legislaturperiode zu verschleppen. Irgendwann wird man sonst wie heute in der Klimadebatte die bittere Frage stellen, warum man nichts gegen das Verhängnis unternommen hat, als noch Zeit war, wirkungsvoll gegenzusteuern.

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