Grundlegende Entscheidungen
15. September 2019Dr. Marc Surminski |
Neues Geschäft und weniger Schäden auf diese zwei Punkte lassen sich die Erwartungen der Schadenversicherer an die Digitalisierung zusammenfassen. So glatt wird die Rechnung allerdings nicht aufgehen, denn dahinter verbergen sich elementare Herausforderungen für die Branche.
Die Digitalisierung verknüpft sich vielerorts mit der Hoffnung, Versicherungsschäden in Zukunft deutlich reduzieren zu können. Mit dem flächendeckenden Einsatz von autonom fahrenden Kfz könnte etwa die Zahl der Verkehrsunfälle drastisch zurückgehen. In der Industrieversicherung, aber auch im Privatkundengeschäft sind durch Sensorik ganz neue Dimensionen der Schadenverhütung möglich. Wenn erst einmal in jeder Maschine, in jedem Stück Ausrüstung und in jedem Teil eines Hauses Sensoren verbaut sind, die rechtzeitig und flächendeckend über drohende Schäden informieren, bekommt das Wort Prävention eine ganz andere Bedeutung.
Die großen Erwartungen an das Internet of Things dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass niedrigere Schäden am Ende auch immer niedrigere Versicherungsprämien bedeuten. In letzter Konsequenz heißt das: In einer Welt ohne Schäden braucht man auch keine Versicherer. Einer heutigen Massensparte wie Kfz wird in Zukunft der Abstieg in eine Nebenrolle vorhergesagt, wenn die Schäden tatsächlich so drastisch sinken. In der Industrieversicherung hat Prävention traditionell schon einen hohen Stellenwert. Auf die Spitze getrieben würde auch hier der Bedarf nach echtem Risikotransfer stark zurückgehen, wenn die Digitalisierung die Schäden erfolgreich reduziert. Es ist nicht undenkbar, dass die Versicherungswirtschaft in diesen Sparten durch die Digitalisierung existentiell an Bedeutung verliert.
Was die Versicherungswirtschaft in ihrem klassischen Geschäft durch die Digitalisierung an Prämienvolumen verliert, könnte sie sich über neue Sparten zurückholen. Cyber ist hier seit Jahren schon die große Wachstumshoffnung der globalen Assekuranz; aber auch bei der Deckung von nichtmateriellen Schäden (Ideen, Wissen, Reputation) gibt es in einer digitalen Welt, wo Erfolg immer weniger auf der klassischen Produktion in klassischen Fabriken beruht, noch großes Potenzial.
Ob die Risiken, die sich etwa aus Cyber und den dort möglichen globalen Kumulen ergeben, tatsächlich im klassischen Risikotransfer von den Versicherern zu bewältigen sein werden, steht allerdings noch nicht fest. Manche sehen die Branche hier vor einem Dilemma: Deckt sie die neuen Risiken wie Cyber, droht ihr der Untergang durch unkalkulierbare Schadenpotentiale. Deckt sie die neuen Risiken wie Cyber nicht, wird sie irrelevant für ihre Kunden.
Versicherer und Kunden stehen vor einer Epoche der grundlegenden Entscheidungen, wie sie die Zukunft der digitalen Welt einschätzen. Dabei geht es auch um die grundsätzliche Funktion der Versicherungswirtschaft und ihre Leistungsfähigkeit in einer sich radikal verändernden Umgebung. Niemand weiß, wohin die Reise dabei wirklich geht. Aber eines dürfte jedem Manager klar sein: Nie war es spannender, dabei am Steuer zu stehen.
Kategorisiert in: 201918 Digitalisierung Titelthema Wirtschaftskommentar