Langlebigkeit und Vorzugsrente
15. Januar 2017Die Abdeckung des Langlebigkeitsrisikos ist mittlerweile ein zentrales Verkaufsargument der deutschen Lebensversicherer. Schon immer hatte die Branche damit in Sachen Altersvorsorge ein Alleinstellungsmerkmal. Aber in früheren Jahren setzte man im Vertrieb lieber auf lebenslange Zinsgarantien und hohe, sichere Überschüsse. Das hat sich mit dem Zinsverfall erledigt. Jetzt steht wieder ein klassisches Biometrie-Risiko im Vordergrund – und damit eine ureigene Versicherungsleistung, die niemand sonst anbieten kann. Ob neue Kapitalmarktinstrumente, mit denen in angelsächsischen Ländern experimentiert wird, dieses Risiko ebenfalls sinnvoll abdecken können, muss sich erst zeigen.
Die deutschen Lebensversicherer haben ihren Rentenprodukten mit der gemeinsamen GDV-Kampagne „Du lebst sieben Jahre länger“ neuen Schwung gegeben. Schon heute dominieren – vom Gesetzgeber über die steuerlichen Rahmenbedingungen so vorgegeben – Rentenpolicen das Neugeschäft. Aber die Kalkulation sorgt dabei für Streit: Die Verbraucherschützer kritisieren die zu hohe eingerechnete Lebenserwartung in der Kalkulation, die Versicherer verweisen auf die nötigen Sicherheitspuffer bei der Gewährung von Langlebigkeitsschutz. Schon einmal musste die Branche teuer nachreservieren, weil die Sterbetafeln nicht rechtzeitig angepasst worden waren.
Das Problem beim neuen Rentenboom ist nur: Es gibt etliche Kunden, die eine Absicherung des Langlebigkeitsrisikos gar nicht brauchen. Wer zu Beginn der Rentenphase gesundheitlich angeschlagen ist und etwa mit Übergewicht und Bluthochdruck zu kämpfen hat, für den ist es nicht sinnvoll, seine Altersvorsorge mit einer Wette auf die eigene Lebenserwartung zu bestreiten. Bei neueren Policen bringt die Kapitalabfindung steuerliche Nachteile. Und bei Rürup und Riester muss er verrenten – auch wenn es Instrumente gibt, das Kapital bei frühzeitigem Tod für die Hinterbliebenen zu schützen, macht der kranke Kunde mit seiner herkömmlichen Rente eher ein Verlustgeschäft.
Eine sinnvolle Alternative für gesundheitlich angeschlagene Kunden ist die Vorzugsrente. Sie hat sich in Deutschland allerdings bis heute nicht durchgesetzt. In Großbritannien, wo es lange Zeit einen Verrentungszwang für angespartes Altersvorsorgekapital gab, war sie dagegen sehr erfolgreich. Ihr Vorteil: Sie bietet Menschen mit geringerer Lebenserwartung eine höhere Rente. Das Langlebigkeitsrisiko wird dabei individuell nach bestimmten gesundheitlichen Kriterien berechnet. Bei den Sterbetafeln der deutschen Lebensversicherer bringt dagegen allein schon der Kundenstatus einen höheren Wert für die Lebenserwartung als in der Gesamtbevölkerung. Weil bei Riester mittlerweile aber auch vermehrt Geringverdiener mit einer aus verschiedenen Gründen geringeren Lebenserwartung zu den Kunden gehören, sind viele durch die herkömmliche Kalkulation erheblich benachteiligt. Für sie wäre die Alternative einer Vorzugsrente das geeignete Produkt. Auch gutverdienende Rürup-Kunden, die aus steuerlichen Gründen abgeschlossen haben, würden sie bevorzugen, wenn sie zu Rentenbeginn gesundheitliche Probleme haben.
Bis auf die LV 1871 hat sich in Deutschland bisher kein Anbieter ernsthaft an Vorzugsrenten versucht. Weil man heutzutage alle Quellen braucht, um in Zeiten erodierender Kapitalerträge überhaupt noch Gewinne erwirtschaften zu können, ist es natürlich eine heikle Sache, seine Produktgestaltung in so einer Situation zu reformieren und bei Rentenprodukten auf mögliche Margen in der Risikokalkulation zu verzichten. Dafür kann man in einem stagnierenden Markt wieder auf Wachstum hoffen, wenn man das vorhandene Kundenpotenzial entsprechend aktiviert. Das Geschäft mit Riester und Rürup bekäme so neuen Schwung, auch für die Wiederanlage von Altverträgen gäbe es neue Perspektiven, weil die Kunden jetzt zur klassischen Verrentung eine Alternative hätten. Und gegen eine individuelle Kalkulation des Risikos sollten auch die Vebraucherschützer in diesem Fall keine Einwände haben.
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