Wie relevant bleibt die Versicherungswirtschaft?
1. Januar 2025Dr. Marc Surminski |
Wie relevant bleibt die Versicherungswirtschaft im neuen Jahr bei der Deckung der wichtigsten Risiken von Menschen und Unternehmen? Auf den ersten Blickt scheint die Bedeutung der Branche ungebrochen: Im langfristigen Vergleich ist das Beitragsvolumen in den meisten wichtigen Sparten global kräftig gestiegen. Selbst in Krisenjahren gab es kaum größere Dellen.
Ein genauerer Blick zeigt aber Risse im schönen Bild: Im Nicht-Lebengeschäft blieb das Wachstum in vielen Ländern hinter dem Wirtschaftswachstum zurück. Die Versicherungsquote im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung ist zwischenzeitlich kräftig zurückgegangen, die Protection Gap im Blick auf Elementarrisiken hat sich in etlichen Regionen beträchtlich ausgeweitet. Die Branche bleibt hier weit hinter ihren Möglichkeiten zurück. Zudem beruht das Wachstum häufig auf Prämienanpassungen – nicht nur seit dem inflationsbedingten Schadenschub in Sparten wie Kfz oder Wohngebäude. In etablierten Märkten wie Deutschland fällt echtes Neugeschäft, gemessen am Stückzahlwachstum, zunehmend schwerer. Bis auf Cyber gibt es keine richtige Wachstumsgeschichte.
Ein ähnliches Bild zeigt sich bei den Personenversicherungen: In der PKV wachsen die Prämien seit Jahren im Wesentlichen durch Beitragsanpassungen; das Neugeschäft kann gerade einmal den Status Quo im Bestand erhalten. In der Lebensversicherung ist der Umsatz nach den Jahren des gewaltigen, zinsbedingten Einmalbeitragsbooms geradezu eingebrochen. Diese neue Normalität wäre durchaus zu akzeptieren – wenn nicht gleichzeitig das Sparvolumen der Deutschen insgesamt in den letzten Jahren stark angestiegen wäre. Der Anteil, den die Lebensversicherer bei den Sparaktivitäten der Menschen haben, ist aber deutlich rückläufig.
Man könnte argumentieren, dass es in einem gereiften, weitgehend verteilten Markt wie Deutschland eben nur noch wenige echte Wachstumsmöglichkeiten gibt – nicht zuletzt vor dem Hintergrund des demografischen Wandels, der immer weniger junge Kunden nachwachsen lässt. Aber der Bedarf, große und auch neue Risiken zu decken, ist durchaus vorhanden. So suchen im Boommarkt Cyber deutlich mehr Firmen Deckung, als die Versicherer zur Verfügung stellen. Und Cyberdeckungen für Privatpersonen fristen weiter nur ein Schattendasein, obwohl Bedarf besteht. Ähnlich ist es beim Versicherungsschutz gegen Elementargefahren – weltweit, aber auch in Deutschland. Und dass die Sozialversicherungssysteme im Umlagesystem längst an ihre Grenzen gestoßen sind, wissen heute die meisten Menschen. Zusätzliches Neugeschäft in Leben (oder auch überhaupt mehr als eine Handvoll Neuverträge in der privaten Pflegedeckung) hat diese Erkenntnis aber nicht gebracht.
Um für die Menschen und die Wirtschaft auch in Zukunft weiter relevant zu bleiben bei der Deckung von existentiellen Risiken, muss die Branche sich bewegen. Dazu gehören innovative Wege bei der Deckung von Komposit-Risiken – durchaus wie in Cyber auch in Zusammenarbeit mit dem Kapitalmarkt –, wenn es darum geht, substantielle Deckung bereitzustellen. Und in der Altersvorsorge dürften über kurz oder lang digitale Standardprodukte – vielleicht mit staatlicher Förderung und mit engen Vorgaben für die Kosten – neue Geschäftspotenziale erschließen. Mit dem geplanten Altersvorsorgedepot war es schon fast so weit. Hier werden sich Versicherer und Vertriebe von den bisherigen Kostenmodellen verabschieden müssen, wenn sie weiter den Markt dominieren wollen.
Dazu wird es nötig sein, etwa gegenüber dem Vertrieb auch unbequeme Entscheidungen zu treffen. Und es wird nötig sein, bei Deckungen im Zweifelsfall auch einmal mehr Risiken einzugehen. Der Kern des Versicherungsgeschäftes besteht darin, Risiken zu tragen, und nicht Risiken abzulehnen. Wenn sich Risikoübernahme mit den bisherigen Instrumenten nicht mehr rechnet, hat die Versicherungswirtschaft ein echtes Relevanzproblem.
Kategorisiert in: 202501 Cyber Personenversicherung Titelthema Wirtschaftskommentar